„Manche
Priester haben ein Beziehungsproblem. Mit Gott“
Von Stephan
Baier
Der Wiener Psychiater und
Psychotherapeut Raphael Bonelli über pädophile
Irrwege, ganz normale Versuchungen und die
Möglichkeit, in der Wahrheit zu leben
Die Kirche ist seit Monaten im
Mittelpunkt der Missbrauchs-Debatte. Warum fokussiert
sich die Diskussion so sehr auf die Kirche und ihr
Personal?
Weil scheinbar das Gute als schlecht
entlarvt wurde. Die, die Gott bringen hätten sollen,
haben sich vergangen. Corruptio optimi pessima. Das
schockiert und paralysiert – oder macht wütend. Da hilft
es nicht, wenn uns der Kopf sagt, dass Pädophilie-Täter
nur einen verschwindend geringen Anteil des Klerus
ausmachen, und dass Priester eine zigfach geringere
Wahrscheinlichkeit haben, pädophil zu sein: das Gefühl
bleibt. Irgendwie weiß man schon, zu welchen
Scheußlichkeiten der Mensch fähig ist; aber dass auch
der Priester diesen menschlichen Abgrund in sich trägt,
ist offensichtlich schwer verkraftbar. Dass jemand auf
die schöne menschliche Liebe verzichtet und dann in
solche Perversionen verfällt, ist ja ein menschliches
Scheitern, das sprachlos macht, das erschüttert. Wenn
irgendein Pädophiler aufgedeckt wird, ist das eine
Einzelperson. Aber wenn es ein katholischer Priester
ist, dann steckt die Kirche mit drinnen. Für viele
Menschen ist das zudem sehr emotional besetzt, weil die
Kirche in ihren Augen für „Sexualrepression“ steht.
Deshalb erleben sie es als extrem scheinheilig, wenn
ihre Amtsträger so etwas machen. Die Kirche steht hier
psychodynamisch für den strengen Vater, der autoritär
Sexualität verbietet. Da mischt sich dann die
Enttäuschung über den gefallenen Vater mit der lange
aufgestauten Wut, die seine Zurechtweisung verursacht
hat.
Repräsentiert also die Kirche das
eigene schlechte Gewissen?
Ja, das kann durchaus sein. Die Kirche
repräsentiert eine Wahrheit, die im Grunde in jedem
Gewissen eingeschrieben ist, nämlich dass Sexualität
nicht schrankenlos gelebt werden kann. Dass man sich
zurücknehmen können muss, dass man Rücksicht nehmen
muss. Die eigene Sexualität wird immer als verletzliche
Intimität erlebt, in der man nicht gerne zurechtgewiesen
wird.
Kann man der Situation auch etwas
Gutes abgewinnen?
Ja, vielleicht: Zum einen setzt das
innerkirchlich einen Reinigungsprozess in Gang. Das
Opfer merkt, dass die Kirche die Taten des Täters nicht
gutheißt und kann sich so leichter mit ihr versöhnen.
Auch wird mit der These aufgeräumt, dass Sexualität
immer gut oder zumindest harmlos ist. Es wird klarer,
dass es einer persönlichen Anstrengung bedarf, um keusch
zu leben.
Dann kommt die These, dass die
„Tabuisierung der Sexualität“ – die Teile der
Öffentlichkeit der Kirche vorwerfen – zu einer
Fehlkanalisierung des Sexuellen führe. Ist daran etwas
Wahres?
Wir wissen heute, dass die Sexualität
begrenzt werden muss, wenn man sie gesund und glücklich
leben will. Sexuelle Gewalt und Pädophilie zeigen uns,
dass Sexualität nicht schrankenlos gelebt werden kann,
weil sie auch schaden kann. Trotzdem träumen nach wie
vor erstaunlich viele von einem solchen Zustand und
glauben, das sei die heile Welt. Das kommt besonders aus
der Ideologie der 68er Bewegung. Dass die Repression von
Sexualität zur Perversion gerät, das ist ein sehr
plumpes, mechanistisches Menschenbild, das an Sigmund
Freud angelehnt ist und noch in vielen Köpfen
herumspukt, obwohl es längst überholt ist. Seit der
sexuellen Revolution sind vor allem Männer der Meinung,
dass sie sich sexuell verwirklichen müssen, weil sie
sonst krank würden. Sexualität wird hier als dranghaft
notwendig erlebt, nicht mehr als kultivierbar und
steuerbar durch die Vernunft.
Wäre die Empörung geringer, wenn es
keinen für katholische Priester verpflichtenden Zölibat
gäbe?
Es kann schon sein, dass die Emotionen
dann nicht so hoch gingen, denn der Zölibat ist noch
immer ein Dorn im Auge des Zeitgeistes. Er zeigt
nämlich, dass ein Mann um einer großen Liebe willen
seine sexuellen Bedürfnisse zurückstellen kann. Dieses
Zeichen ist störend für die Spaßgesellschaft, deshalb
wird gegen diese Bastion angerannt. Wenn der Priester
verheiratet wäre, dann wäre er nicht so herausgehoben,
sondern „einer von uns“. Es ist interessant, dass in den
Ostkirchen, wo es verheiratete Priester gibt, die
Zölibatären mehr geschätzt werden. Auch in
buddhistischen Mönchskulturen versteht man, dass ein
ganz spirituelles Leben mit dem Zölibat verbunden ist.
Kann der Zölibat krank machen?
Ja. Zölibat kann krank machen, wenn man
ihn falsch lebt. Zölibat ist nie eine Existenzform in
sich, sondern rein psychodynamisch-menschlich gesehen
durchaus ein Defizit, eine Schieflage, eine Wunde.
Dieses Defizit aber macht eine immense transzendente
Offenheit möglich – deswegen gibt es zölibatäre
Lebensformen auch in allen Kulturen. Der Zölibat kann
ohne das Phänomen des Glaubens und der Liebesbeziehung
mit Gott nicht erklärt werden. Wenn ein zölibatärer
Mensch nicht eine intensive Beziehung pflegt mit seiner
Liebe, nämlich mit Gott, dann verkümmert er menschlich
oder hält nicht durch. Es ist auch wichtig, dass ein
zölibatärer Mann weiß, was eine Frau ist und wie er mit
ihr richtig umgeht. Zu viel Vertrautheit und
Selbstoffenbarung kann zu einer Situation führen, die
leicht kippen kann. Ich habe in meiner Praxis immer
wieder Priester, die in eine Liebesbeziehung
geschlittert sind, die sie eigentlich gar nicht wollten.
Meist ist der Betroffene am Anfang nicht ehrlich mit
sich selbst. Oft deutet er die eigenen Sehnsüchte
pastoral um, bis die wachsende Intensität der Beziehung
in Körperlichkeit umschlägt. Am Anfang steht das
emotionale Defizit der Einsamkeit, das in einer gesunden
Gottesbeziehung durch Gebet gefüllt wird. Wenn durch
Stress und Aktivismus das Gebet vernachlässigt oder
inhaltsleer wird, dann wird der Priester anfällig für
solche menschlich natürlichen Sehnsüchte.
Was geschieht aus psychiatrischer
Sicht beim Zölibat mit der Sexualität: Wird sie
verdrängt oder unterdrückt?
Nach dem Freudianischen Modell würde
man sagen: Sexualität wird hier sublimiert. Aber das
greift zu kurz. Es ist besser zu verstehen, wenn man
unterscheidet zwischen Geschlechtlichkeit und
Sexualität. Die Geschlechtlichkeit ist das
Ganz-Mann-Sein oder Ganz-Frau-Sein, in das man immer
mehr hineinwachsen muss. Zölibat ist nicht der Verzicht
auf Geschlechtlichkeit, sondern auf ausgelebte
Sexualität – um einer Liebe willen. Diese Situationen
gibt es aber auch in einer glücklichen Ehe. Manfred Lütz
hat gesagt: „Wer nicht auf Sexualität verzichten kann,
ist nicht ehefähig.“ Ich glaube, dass er Recht hat, weil
in einer Ehe die Fähigkeit zum Verzicht bestehen muss.
Wer sexuell konsumieren möchte, wann immer ihm danach
ist, ist nicht beziehungsfähig.
Kann die zölibatäre Lebensform für
manche Menschen ein „leichtes Joch“ sein, für andere
aber schwer oder gar unerträglich?
Selbstverständlich ist der Trieb
unterschiedlich ausgeprägt; das hat aber auch viel mit
Vorerfahrungen, stimulierten Phantasien und Erinnerungen
zu tun. Die Fähigkeit, seinen Geschlechtstrieb zu
kultivieren und zu vermenschlichen nennt man die Tugend
der Temperantia, die auch von atheistischen Psychologen
wie Martin Seligman wiederentdeckt wurde. Ihr Ziel ist
„die Ruhe des Gemüts“, wie Thomas von Aquin sagt, die
Ausgeglichenheit, das In-sich-Ruhen. Temperantia heißt
in sich selbst Ordnung schaffen, also eigene Phantasien
und Wünsche zu bewerten und zu kultivieren oder zu
reduzieren. Das gilt nicht nur für die Sexualität.
Viktor Frankl hat bezüglich der hypochondrischen
Selbstbeobachtung gesagt: „Nur das kranke Auge sieht
sich selbst“. In Anlehnung daran könnte man sagen: Nur
der kranke Priester schaut auf sich, der gesunde hat die
ihm Anvertrauten im Blick und die Augen auf Gott
gerichtet. Jemand, der sein Leben ganz hingegeben hat,
kommt ins Schleudern, wenn er beginnt, sich selbst zu
suchen oder ich-haft zu „verwirklichen“.
Manche meinen, wer sich für den
Zölibat entscheidet, müsse – im Sexuellen – auch wissen,
worauf er verzichtet.
Ja, wissen müssen sie es natürlich
schon, aber nicht erlebt haben. Ein Psychiater muss auch
nicht Heroin probiert haben, um ein guter Therapeut für
Drogensüchtige zu sein. Sexuelle Erfahrung ist nicht
alles. Ein Seminarist muss vor allem spirituelle
Erfahrungen machen.
Wir sprachen darüber, ob Zölibat krank
machen kann. Umgekehrt gefragt: Kann es sein, dass diese
Lebensform psychisch kranke Menschen, die in ihrer
Geschlechtlichkeit unsicher oder gestört sind, anzieht?
Man kann nicht ausschließen, dass sich
da auch Pathologien ansammeln. Menschen, die sich nicht
an das andere Geschlecht binden können, finden hier eine
Lebensform, in der sie unauffällig durchkommen. Das wird
besonders dann problematisch, wenn sie eine andere,
kranke Form von Sexualität leben wollen und damit andere
schädigen. Man muss sehr genau aufpassen, wer in die
Priesterseminare eintritt, weil nur ein psychisch
gesunder und stabiler Mann geeignet ist für den
Priesterberuf.
Kann es sein, dass Männer mit einer
pädophilen Neigung „in den Talar“ geflohen sind, um
unantastbar zu sein oder um sich vor den eigenen
Neigungen zu schützen?
Viele mit pädophilen Neigungen flüchten
in die Ehe, andere in den Priesterberuf. Irgendwie muss
man sein Leben ja gestalten, wenn man in sich eine
solche Neigung wahrnimmt. Sie werden sich möglicherweise
gedacht haben, dass sie das schon irgendwie in den Griff
bekommen werden, oder dass die Weihe sie heilen wird.
Sigmund Freud hat gemeint, dass die Sexualität polymorph
pervers angelegt sei, und das hat schon etwas Wahres. In
einer normalen sexuellen Beziehung ist die Frau das
Korrektiv. Aber wenn Sexualität alleine gelebt wird,
etwa in Form von Selbstbefriedigung und Pornografie,
sind da keine Grenzen gesetzt. Die Reduktion der
Sexualität tut bei abartigen sexuellen Neigungen gut.
Damit meine ich die Kontrolle der Gedanken, die
Phantasie nicht schweifen lassen, den visuellen Input
kontrollieren. Damit verschwinden meist zunächst die
paraphilen Phantasien und die gesunde sexuelle Neigung
bleibt, weil Paraphilie praktisch immer mit einer
Hypersexualität einhergeht.
Die gesellschaftliche Verharmlosung
der Pädophilie kam aber aus einer ganz anderen Richtung.
Die Psychologie der 70er Jahre war, das
so darzustellen als sei es gar nicht so schlimm oder im
konsensuellen Fall sogar in Ordnung. In den 70er und
80er Jahren gab es die vermeintlichen sexuellen
Befreiungsbewegungen, in die die Pädophilen ursprünglich
integriert waren. Ein prominenter deutscher
Grün-Politiker hat noch 1988 gefordert, die konsensuelle
Pädophilie straffrei zu stellen; eine These, von der er
sich kürzlich distanziert hat. Es war damals im Bereich
der grün-alternativen Bewegung in, „alternative Formen“
der Sexualität zu entkriminalisieren und zu
entpathologisieren.
Muss man sich Priester, die
jahrelang zugleich Missbrauchstäter sind, psychologisch
als gespaltene Persönlichkeiten vorstellen? Es gibt ja
Fälle eines echten Doppellebens.
Der Fall Marcial Marciel Degollado ist
für mich ein Geheimnis, aber vielleicht vergleichbar mit
einem Sektenführer, der den anderen ein heiligmäßiges
Leben vorspielt von dem er sich selber dispensiert, der
aber mit der Rechtfertigung lebt, dass er diese Rolle
weiterspielen muss und dieses Rollenspiel für die
anderen auch Gutes hat. An diese Art des Doppellebens
kann man sich so gewöhnen, dass man sich emotional nicht
im Bewusstsein eines Doppellebens befindet, sondern eine
innere Rechtfertigung geschaffen hat, die diese Art von
Verhalten begründet. Hochstaplerei ist eine Extremform
eines Phänomens, das wir alle kennen: Jeder lebt ja
irgendwie mit einem schlechten Gewissen, das er nicht
ganz wahrhaben will. Es findet eine Bagatellisierung der
eigenen Schlechtigkeit statt. Wir Menschen neigen dazu,
eigene Fehler geringer zu achten als fremde. Aber wenn
man sich von der Wahrheit entfernt, dann hat das
konkrete Auswirkungen auf die zwischenmenschlichen
Beziehungen. Deshalb ist ein Selbstbetrug nie etwas
Gutes. Am besten lebt man doch in der Wahrheit. Sich die
Wahrheit über sich selbst eingestehen, nennt man Demut.
Die tut gut. Wenn Menschen eine grobe Unordnung in ihrem
Leben haben, dann meist auch eine grobe Art von
Selbstbetrug.
Worauf müsste bei der
Priesterausbildung geachtet werden? Ist es möglich,
paraphile Neigungen zu erkennen und betroffene
Kandidaten auszuschließen?
Normalerweise hat ein Regens im
jahrelangen Zusammenleben mit den Kandidaten einen Blick
dafür, wer geeignet ist. Paraphilien gehen oft mit
Persönlichkeitsstörungen einher, und die erkennt man
schon. Man sieht, wie einer mit anderen umgeht, ob er
dienen und gehorchen kann. Das sind Tugenden, die nicht
in Mode sind, aber zeigen, ob jemand psychisch gesund
ist, weil er sich selber zurückstellen kann und sich
selber in den Dienst nehmen lässt. Wenn sich einer
ständig in die erste Reihe drängen muss und glänzen
will, dann zeigt er, dass es ihm mehr um das Ich geht
als um das Du. Das ist gefährlich.
Ist im Priesterseminar eine
Erziehung zu Keuschheit und Zölibatsfähigkeit möglich?
Ja, das ist unbedingt notwendig! Das
Priesterseminar ist dazu da, die priesterliche
Keuschheit zu erlernen. Das Annehmen der vollen
Geschlechtlichkeit im Sinne der Männlichkeit macht den
Priester aus, der anderen väterlich begegnen kann. Dazu
gehört, dass die jungen Männer lernen müssen, ihre
Sexualität um der Liebe willen zu kultivieren, was im
Normalfall auch funktioniert.
Welche Tipps gibt der Psychiater und
Psychotherapeut den Leitern von Priesterseminaren für
den Umgang mit Sexualität?
Es ist in die Priesterseminare eine
falsche und unglückliche These eingedrungen: Jeder
Mensch müsse seine Sexualität in irgendeiner Form leben,
sonst werde er neurotisch. Das ist definitiv falsch,
verunsicherte aber in der Vergangenheit manchen
Priesterseminaristen, und bewirkte, dass er die
Autoerotik „entdeckt“ oder nicht beendet hat. Es war
sicher übertrieben, dass die Selbstbefriedigung früher
mancherorts als größte Sünde dargestellt wurde, doch
wurde sie in den darauf folgenden Jahrzehnten oft zu
sehr bagatellisiert und verharmlost. Hier wird die
Möglichkeit eines keuschen Lebens bezweifelt. Das ist
eine schlechte Basis für einen erfüllend gelebten
Zölibat. Die Seminaristen müssen lernen zu erkennen, was
ihnen guttut und was nicht, wo ihre eigenen Grenzen
liegen. Hier ist auch die Tugend der Klugheit nötig.
Werden nicht alle, auch Priester,
heute überschwemmt von Sexuellem: durch Fernsehen,
Internet, Werbung? Wird es dadurch nicht viel schwerer,
keusch zu leben?
Anders, aber nicht schwerer. Es war nie
einfach, ein keusches Leben zu leben. Heute erntet man
viel mehr Verständnis, wenn man ein keusches Leben führt
und fordert als vor 30 Jahren, weil die negative
Dimension der ungehemmten Sexualität klar zutage tritt.
Dem Irrtum, dass Sexualität ein Allheilmittel sei,
sitzen wir heute nicht mehr auf. Es ist ein Zeichen von
Freiheit und Reife, wenn man selbst entscheidet, was
einen beeinflusst.
Was rät der Psychiater einem
Priester, der in diesem Bereich zu ringen hat?
Er soll die Augen von sich selbst
wegnehmen und auf die anderen richten, auf seine
Gottesbeziehung und seinen priesterlichen Dienst. Die
Probleme rund um die Keuschheit sind oft Probleme von
Leuten, die zu viel Zeit mit sich selbst verbringen.
Wenn einer stundenlang im Internet surft, ist es kein
Wunder, wenn er auf dumme Gedanken kommt. Einsamkeit und
Sinnlosigkeit sind die Folgen einer mangelnden
Gottesbeziehung. Ich behandle Menschen mit
Internet-Sexsucht: Fast alle haben ein
Beziehungsproblem. Deshalb sage ich manchen Priestern,
dass sie ein Partnerschaftsproblem haben – mit Gott.
Wenn man den Partner nicht mehr liebt und sich ihm nicht
mehr hingibt, dann macht sich das Ich breit. Und das Ich
ist polymorph pervers. Falls seine Probleme allerdings
krankhafte Dimensionen annehmen, sollte er sich
unbedingt professionelle Hilfe holen.
Was paraphil, früher sagte man
pervers, ist, scheint nicht mehr klar. Reicht diese
Verunsicherung in den kirchlichen Bereich hinein?
Ja, weil man lange „unmoralisch“ mit
„krank“ verwechselt hat. Erst wurden im 19. Jahrhundert
die Paraphilien zu Krankheiten erklärt, um sie aus der
moralischen Bewertung der Sittenwidrigkeit
herauszubringen. Jetzt kämpfen manche darum, wieder aus
dem Krankheitskatalog gestrichen zu werden, weil sie das
als Diskriminierung empfinden. Das ist schön und gut,
aber eben eine medizinische, nicht schon eine moralische
Bewertung. Krank–gesund und unmoralisch–moralisch sind
verschiedene Dimensionen. Nicht alles, was gesund ist,
ist moralisch in Ordnung. Es gibt psychisch gesunde
Mörder. Gefördert durch das Internet wird Sexualität
heute so bunt und vielfältig angeboten wie noch nie.
Besonders gefährlich ist das für die Jugendlichen, die
vulnerabel und beeinflussbar sind. Die Kirche hatte
immer zu zeigen, was der Weg zu einer glücklich gelebten
Sexualität ist, nämlich eine intensive Du-Beziehung im
Rahmen einer stabilen Partnerschaft. Wenn vor allem die
eigene sexuelle Lust intendiert ist, dann macht das
unglücklich. Als Psychiater beeindruckt mich da die
katholische Lehre, die das aus ihrer Sicht auf den Punkt
bringt: Die Geschlechtslust ist dann ungeordnet, wenn
sie um ihrer selbst willen angestrebt und von der
liebenden Vereinigung losgelöst wird.
Quelle:
Interview aus der Zeitung "die Tagespost" vom 10.Mai
2010 |